So macht man Opfer zu Tätern: Replik auf Wolfgang Reinhards Apartheidsvorwurf gegenüber Israel
Die Weltöffentlichkeit hat ein neues Thema: Es ist der Kolonialismus, der von den einen als Unrecht, von den anderen auch als eine Art Entwicklungshilfe des fortschrittlichen Europas für eine zurückgebliebene Welt erachtet wird. Dass in diesem Gelehrtenstreit, der wie oft in der Geschichte sein gewalttätiges Echo auf den Straßen hat, gerade die Juden, hier vertreten durch den einzigen jüdischen Staat Israel, eine zentrale, natürlich negative Rolle spielen, kann den Beobachter der mediterranen und europäischen Geistesgeschichte nicht verwundern. Es ist schon die Charta der europäischen Geistesgeschichte, das Neue Testament, das dafür die Paradigmen liefert.
Im Streit um die Priorität von Ethik und Gesinnung oder von Gesetz und Glaube als den selig machenden menschlichen Verhaltensweisen waren es nach Auffassung der Meinungsmacher die Juden, die das tödliche Gesetz propagierten. Diese Auffassung nahm der Reformator Martin Luther in seinem Ringen mit dem katholischen Kirchenverständnis wieder auf. Er beschränkte sich nicht darauf, das Jüdische als den Urgrund des falschen Verständnisses zu brandmarken, sondern gebot gar, es auszurotten. Noch im Neuen Testament wurde eine zweite Debatte eröffnet: die von der Heil schaffenden Gnosis gegen die Verderbtheit des Fleisches, ein Thema, das gerade erst in der diesjährigen Osterbotschaft eines diesmal katholischen Theologen in der F.A.Z. aufgeheizt wurde. Und wie selbstverständlich sind es auch hier pauschal die Juden als die Kinder des Teufels, welche die wahre Geist-Erkenntnis der johanneischen Botschaft bekämpfen; die gegen den Messias das „Kreuzige ihn“ schrien und sein Blut über ihre Häupter beschworen. In der frühen Kirche, als im Rahmen der großen Debatten um die Transzendenz der Gottheit aus dem fleischlichen Messias ein aus dem göttlichen Vater hervorgegangener Gottessohn wurde, machte man die Juden flugs zu Gottesmördern.
Aber es waren nicht nur die Debatten um die hohe Theologie und Philosophie, die diesem Paradigma folgten. Als im vierzehnten Jahrhundert in Gestalt der Pest eine unheimliche unsichtbare Macht die europäische Menschheit dahinraffte, mussten wie immer die Juden herhalten, die gemäß der neueren, mehr naturwissenschaftlich orientierten Weltsicht als Brunnenvergifter gebrandmarkt wurden. Und so geht es auch später weiter, nachdem sich die Debatten aus den geistlichen Räumen hinaus in das Wirtschaftsleben verschoben. Als sich der höfische Merkantilismus schamlos der jüdischen Rechtlosigkeit bediente, willkürlich spezielle Judensteuern und Handelspflichten auferlegte. Man denke an die Pflicht der Juden unter Friedrich dem Großen, das erfolglose preußische Porzellan gegen Bewilligung von Heirats- und Wohnrechten von Kindern kaufen zu müssen, bis hin zu vom König geforderten Falschmünzen, welche die Armut des Volkes zugunsten des Adels und des absolutistischen Staates beförderten. Und wer waren dann die Schuldigen? Schnell gab es einen Kapitalismus-Judenhass. Der notorische Judenhass hat sich, nachdem der Theologie das Pulver dafür ausgegangen war, ohne Zögern der wirtschaftlichen Argumente bedient. Die Juden wurden in der Verteilungsdebatte indessen nicht nur für den Kapitalismus verantwortlich gemacht, sondern ebenso für dessen Gegenteil, den Kommunismus.
Als man die Hierarchie der Weltordnung später mit einer neu aufgekommenen Rassenlehre begründen wollte, hatte man schon wieder neue Argumente gefunden, um alles Übel in der Welt den Juden zuzuschreiben. Und als die Debatte um die Apartheid in Südafrika und Amerika virulent wurde, zögerte man nicht, Israel als Apartheidsstaat zu diskreditieren. In unseren Tagen ist der Kolonialismus das zentrale Thema. Wen wundert es da noch, dass selbst Historiker, ohne zu zögern, den jüdischen Staat als das noch bestehende und strafwürdige Exemplar des Kolonialismus betrachten?
Faktizität und Deutung: Die Motive des Zionismus
Trotzdem ist man erstaunt darüber, wie leicht der vielgerühmte Historiker der „Weltunterwerfung“, Wolfgang Reinhard, sein raumgreifendes F.A.Z.-Interview vom 25. Juni mit einer Tirade gegen Israel als Ausbeutungs-, Herrschafts- und Diskriminierungssystem eröffnet. Man reibt sich die Augen, mit welch leichtfertiger Formel Reinhard das kleine, von einer millionenstarken feindlichen Population umgebene Land als letzte Bastion des westlichen Kolonialismus apostrophiert. Er wirft andersdenkenden Historikern vor, dass sie sich zu sehr um die „Bedeutung von Geschichte“ bemühen, anstatt endlich „zur Sache“ zu kommen „und nicht bloß zur Bedeutung“. Weiß denn Reinhard nicht, dass es beim Verstehen von Geschichte wie ja auch im Recht und im gesellschaftlichen Leben eminent auf die „Bedeutung“ ankommt?
In Gerichten und im allgemeinen Bewusstsein unterscheidet man ja schon zwischen Mord, Totschlag und Tötung aus Notwehr. Die Soldaten, die man zur Verteidigung des Landes in die Schlacht schickt, werden als Retter des Vaterlandes und als Helden gefeiert, anders die Angreifer, die in das eigene Land einfallen, und wieder etwas anderes ist die Hinrichtung eines zum Tode verurteilten Verbrechers. Die Bedeutung ist alles, das bloße Faktum noch nichts.
Wie kann also Professor Reinhard allein aus dem Faktum, dass die ersten Zionisten als Siedler nach Palästina kamen, den Vorwurf des Kolonialismus erheben? Und wie blind kann man sein, wenn man sagt: „Aus der Tatsache, dass Israel wegen des Holocausts gegründet wurde, folgt noch lange nicht, dass es keine Kolonie sein kann. Außerdem ging ja das Streben nach einer Staatsgründung dem Holocaust voraus“? Hat Herr Reinhard nicht gewusst, dass der praktische und dann auch politische Zionismus nicht aus kolonialistischen Motiven entstand, sondern aus fast zweitausend Jahren physischem, rechtlichem und religiösem „Holocaust“? Lese er doch die Bücher und Schriften der frühen Zionisten des neunzehnten Jahrhunderts.
Schuldumkehr durch Ausblendung des Kontexts
Gewiss, Theodor Herzl hat den Versuch unternommen, sein Unternehmen in den Rahmen des europäischen Hochkolonialismus einzuspannen, um bei den Politikern Europas und der Hohen Pforte überhaupt Gehör für eine Lösung der „Judennot“ zu finden. Herzl ist mit diesem kolonialistischen Rettungsanker gescheitert, weil die europäischen Mächte, voran Großbritannien, ihm eine Kolonialcharta verweigerten, mehr aber noch, weil ein Großteil der Zionisten selbst dies nicht als den richtigen Ansatz für ihr eigenes Anliegen erachteten. Ansonsten hätten sie ja auch das britische Angebot einer Koloniegründung in Uganda angenommen.
So wie Tötung nicht gleich Mord ist, ist „Siedlung“ nicht gleich Kolonialismus. Von einem Historiker sollte man mehr Differenzierungsvermögen verlangen. Die Motive für den Zionismus sind eben ganz andere als die der britischen East India Company oder der Russia Company und Ähnlichen. Zur Geschichte gehört immer eine Vorgeschichte, anders kann man sie nicht verstehen und missdeutet sie. Und das muss man allen vorwerfen, die nun wieder einmal in einer „Gelehrtendebatte“ und ideologischen Straßenkämpfen die Juden, hier als Staat Israel, als Urgrund allen Übels betrachten.
Sucht man nach Motiven für Reinhards so wissenschaftsferne Zuordnung, so gibt er selbst einen Hinweis, wenn er sagt: „Es gibt ja … bei den Juden so eine Art Monopol auf das Opfer. Das weiß ich deswegen, weil ich Reinhard heiße, und möglicherweise bin ich von Haus aus Zigeuner. Und die Sinti und Roma, wie wir heute heißen, hat es viel Mühe gekostet, bis sie auch ihr Denkmal hatten.“ Wie immer in den genannten Debatten, Reinhard sagt es selbst, ist es die heftigste Rivalität um Ansprüche, welche das Denken und Argumentieren der Menschen bestimmt. Dass darüber sogar die Historiker ihre zunftmäßigen Regeln missachten, zeigt sich schließlich in einer letzten Äußerung Reinhards in seinem Interview: „Mbembe rechne ich hoch an, dass er eine sehr alte Einsicht erneuert hat, zu der ich als Historiker auch einmal gelangt bin: Opfer, wenn sie die Chance kriegen, verwandeln sich im Handumdrehen in Täter. Leider ist Israel auch so ein Fall.“
Man kann es kaum glauben. Sind denn die Taten der Schlächter in den deutschen Konzentrationslagern dieselben wie die eines Staates, der nach einem Angriffskrieg die Sicherheit seiner Bürger verteidigt angesichts der auch schriftlich geäußerten und von den iranischen Staatsführern ungeniert tagtäglich wiederholten Absicht, dieses Land und seine Bürger – mit Hilfe der Helfershelfer vor Ort – vernichten zu wollen? Ein Historiker, der so etwas sagt, diskreditiert sich selbst. Man möchte die Überschrift des Interviews hier nur leicht ergänzt voranstellen: Debatten über Geschichte sind immer schmutzig.
Karl E. Grözinger ist Professor emeritus für
Jüdische Studien in Potsdam/Berlin
Hinterlasse eine Antwort